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  • AutorenbildLeonie

Ein Fegefeuer auf Erden


Es ist der 23. August, wenige Tage vor unserem Auftritt im Stadt Casino. Ich bewege mich durch den Künstler*inneneingang und mich durchströmt eine wohlige Atmosphäre. Ich begebe mich auf direktem Weg am leblosen Musiksaal vorbei in das erste Stockwerk zum Hans Huber-Saal, welcher bereits von Stimmen der Chorleute belebt ist. Der Gymchor Muttenz und der Gymchor Liestal mit all den beteiligten Chorleiter*innen hat sich hier versammelt und wartet ungeduldig auf den Beginn der Probe. Damit es endlich los gehen kann, begibt sich die ganze Gruppe in den Musiksaal, um sich dort zur entsprechenden Stimme zu stellen. Links steht der Sopran, dahinter der Tenor. Rechts der Alt und dahinter die Bassstimmen. Vor uns Sänger*innen befinden sich die noch leerstehenden Stühle, die für das Sinfonieorchester bestimmt sind.

Nach dem Einsingen mit Christoph Huldi, dem Chorleiter des Gymchors Muttenz, wird er durch den Italiener Leonardo Sini abgelöst. Leonardo Sini ersetzt den krank im Bett liegenden Dirigent Giampaolo Risanti, welcher ursprünglich als Leitung gedacht war. Nun können wir mit dem Singen des Stücks „Messa da Requiem“, komponiert von Guiseppe Verdi, beginnen. Wir beginnen nicht am Anfang, sondern mittendrin. Jeder Satz wird noch einmal genau geprobt, so dass jede Dynamik von uns korrekt gesungen wird. Dadurch können wir Sänger*innen den Dirigenten kennenlernen und er uns, damit beim Auftritt unser Dirigent die schwierigen Einsätze geben kann und wir sie zeitig bringen können. Pünktlich ist die lange und intensive Probe beendet und der gesamte Chor wird mit einer Pause belohnt. Mit verspanntem Rücken, schmerzenden Beinen und müden Arme verlassen wir den Saal, um neue Energie zu tanken.


Mit gefüllten Mägen und durchlüfteten Köpfe trudelt der Chor nach und nach im Saal ein. Die vorhin menschenleeren Stühle sind nun vom Orchester besetzt. Der zuvor leblose Saal ist nun erfüllt mit Geschnatter der Chorleute und bunten Klängen des Orchesters. Wie automatisch verstummen die Stimmen und Klänge. Der Dirigent steht pünktlich auf seinem Podest, wie es sich das Orchester gewohnt ist. Er allein ist verantwortlich für das Gelingen des Zusammenspieles der Stimmen und Klänge.

Das Orchester ist bereit. Die über 150 Sänger*innen haben eine kerzengerade Haltung eingenommen, die bereits geöffneten Textbücher in der einen Hand und die volle Aufmerksamkeit auf den Dirigenten gerichtet. Bereit für den ersten Satz Requiem e Kyrie? Leonardo Sini hebt den Taktstock. Die Spannung schwebt förmlich in der Luft, die Stille ist erdrückend. Die scheuen Klänge der Streicher durchbrechen die Stille und erhellen den Saal. Der erste Einsatz des Chores ist überwunden und lässt die Nervosität für wenige Atemzüge abklingen. Die Musik des Orchesters lässt den Chor auf Wolken schweben und hebt ihn dem Himmel entgegen. Noch immer schwebend ist der erste Satz auch schon beendet. Stille. Die Stimme des Dirigenten zerrt den Chor zurück in die Realität. Nun steht der vierte Satz an. Die abgeklungene Nervosität ist zurückgekehrt. Nicht verwunderlich, denn jetzt müssen die Einsätze kommen, auch welche, die Leonardo Sini nicht zeigen kann. Nach dem gemeinsamen Start aller Chorstimmen beginnen die Sopranstimmen des Muttenzer Chores. Die Sopranstimmen des Liestaler Chores folgen in den nächsten Takten. Auch versetzt folgen die Altstimmen beider Chöre. Kurz darauf setzen auch die beiden Männerstimmen ein. Der vierte Satz ist in vollem Gange. Vier verschiedene Stimmen und diese alle noch einmal verschieden und versetzt, lassen dem Saal keine Pause zum Atmen. Das Orchester nicht zu vergessen. Klänge die einem die Härchen aufstellen lassen, den Puls Rekordgeschwindigkeiten erreichen lassen und die den Dirigenten ins Schwitzen bringen. Mit schallenden Tönen ist der Satz beendet. Kurzes Aufatmen ist zu hören, bevor der fünfte Satz Agnus dei beginnt. Dieser könnte man als Gegenteil des vierten Satzes bezeichnen. Er zeichnet sich aus durch die langsamen und klangvollen Melodien, die nun wie ein Nebel in der Luft hängen. Der Puls hat sich beruhigt, die Körperhaltung etwas gelockert, da ist der fünfte Satz auch schon beendet.

Leonardo Sini lässt seinen Blick über den Chor und das Orchester schweifen. Jede einzelne Person im Saal hat dieselbe Vorahnung. Der berühmte zweite Satz, welcher kein anderer als Dies irae ist, beginnt in wenigen Sekunden. Ein hörbares Einsaugen der Luft ist vom Dirigentenpodest zu hören, als Leonardo Sini auch schon beide Hände erhebt und dem Orchester den Einsatz gibt. Ein Aufdonnern der Instrumente fegt durch den Saal. Alle Augenpaare des Chores sind aufgerissen, der Atem angehalten. Der Einsatz des Chores naht und erfolgt mit einer gewaltigen Wucht. Der Chor wird mitgerissen. Diese jähzornige Kraft ist ohrenbetäubend und lässt den Saal beben. Das Fegefeuer aus dem Jenseits hat die Erde erreicht. Es ist unerträglich und doch kann man nicht aufhören. Der Wucht kommt man nicht entgegen, irgendwie will man auch nicht dagegen ankämpfen. Ja man geniesst den Moment der Schwerelosigkeit, den Moment, bei dem man von den Füssen gerissen wird und zu ertrinken scheint.

Alle Anwesenden ringen nach Sauerstoff, der Satz ist beendet. Man wird wieder von der Erde angezogen, man fühlt sich schwer und erschöpft. Schon vermisst man diese Wucht und diese Kraft. Zeit, um sich zu erholen gibt es aber nicht, der siebte und letzte Satz Libera me, Domine wird angestimmt. Jeder und Jede nimmt einen tiefen Atemzug, denn die bereits bekannte Spannung hängt im Saal. Die Heftigkeit dieses Satzes kommt annähernd an die des zweiten Satzes heran. Er lässt den Saal erschüttern und lässt ihn beben. Und klingt mit sanften Tönen aus, die Probe ist geschafft. Das Fegefeuer ist zurück im Jenseits, die Erde bleibt unverändert. Doch wir, wir Chorsänger*Innen, Chorleiter*innen, Dirigent und Orchester sind zufrieden und mit einem Lächeln auf den Lippen verlassen wir das Stadt Casino und begeben uns in unsere ganz persönlichen Welten.

 

Text: Leonie Bögli

Bild: Wix.com

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